Menschen ohne Papiere können in Deutschland keine Leistungen von Sozialamt oder ähnlichen Behörden in Anspruch nehmen. Denn die dortigen Mitarbeiter_innen melden in Übereinstimmung mit der derzeitigen Rechtslage häufig den illegalisierten Status der Antragssteller_innen an die Ausländerbehörde, was in der Regel ein Abschiebeverfahren nach sich zieht.
Papierlose, wie auch alle anderen sich illegalisiert in Deutschland aufhaltenden Personen, sind in §1, Abs.1, Nr.5 AsylbLG ausdrücklich in den Kreis der Leistungsberechtigten nach § 4 und 6 AsylbLG eingeschlossen. Da aber die Beantragung eines Krankenscheins beim Sozialamt die einzige Möglichkeit darstellt, diesen Leistungsanspruch wahrzunehmen, befinden sich die Betroffenen in einem Krankheitsfall, der ihre finanziellen Möglichkeiten übersteigt, gegenwärtig in einer unmenschlichen Zwickmühle:
Entweder sie beantragen beim Sozialamt die Kostenerstattung und riskieren damit die Abschiebung oder sie nehmen die gesundheitlichen Folgeschäden bis hin zu lebensbedrohlichen Zuständen in Kauf.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Entscheidungen über die Vergabe von Krankenscheinen von medizinisch nicht qualifiziertem Verwaltungspersonal getroffen werden. Welche Krankheitsbilder unter die durch §4 und 6 AsylbLG abgedeckten akuten Erkrankungen und Schmerzzustände einzuordnen sind, wird jedoch kontrovers diskutiert und stellt selbst erfahrene Ärzt_innen immer wieder vor erhebliche Schwierigkeiten. Insofern öffnet die Einschätzung durch Mitarbeiter_innen des Sozialamts, ob es sich in ihrer Wahrnehmung um eine akute bzw. schmerzhafte oder um eine chronische Erkrankung handelt, behördlicher Willkür Tür und Tor. Ob eine notwendige Behandlung gewährt wird, unterscheidet sich von Sozialamt zu Sozialamt und von Mitarbeiter_in zu Mitarbeiter_in. Diese schikanöse Praxis führt durch Verzögerung notwendiger Behandlung nicht nur zu unnötigen Schmerzen, Krankheitsverschleppungen bis hin zu dokumentierten Todesfällen, sondern bedeutet für die Betroffenen auch ein Gefühl des ohnmächtigen Ausgeliefertseins gegenüber den Behörden. Neben den Nachteilen für die Patient_innen stellt diese Praxis aber auch eine für die Verwaltungsmitarbeiter_innen häufig belastende und überfordernde Situation dar. Nicht zuletzt wäre eine frühere und umfassendere Behandlung auch gesundheitsökonomisch sinnvoll, da sich dadurch teure Notfall- und Intensivbehandlungen vermeiden lassen. Der gesundheitliche, verwaltungstechnische und finanzielle Benefit einer solchen am Normalleistungsspektrum orientierten Behandlung zeigt sich zum Beispiel auch für die Gruppe der Asylbeweber_innen am Konzept der frühzeitigen Ausgabe einer regulären Gesundheitskarte, wie sie etwa in Bremen erstmals mit großem Erfolg eingeführt wurde (siehe Bremer Modell).
Dieser Missstand war einer der Hauptgründe, warum sich MediNetze und MediBüros überhaupt gründeten und seine Behebung ist nach wie vor eines unserer zentralen Anliegen.
Als kurzfristige Übergangslösung bis zur Etablierung einer nachhaltigeren Gesundheitsstruktur schlagen wir die Ausgabe von so genannten Anonymen Krankenscheinen vor. Diese enthalten keine Kennzeichnung eines eingeschränkten Behandlungsumfangs und ermöglichen eine freie Arztwahl. Dabei werden die Krankenscheine durch nichtstaatliche Institutionen (NGOs) unter ärztlicher Leitung ausgestellt und z.B. über einen Fonds von Kommunen oder Ländern finanziert. Durch dieses niedrigschwellige Verfahren wird die Behandlungsentscheidung an medizinisch ausgebildetes Personal übertragen, womit der Patient_innenenkontakt unter die Schweigepflicht fällt und die Betroffenen keine aufenthaltsrechtlichen Folgen mehr fürchten müssen.
Informationen zum Modellprojekt eines anonymen Krankenscheins in Niedersachen.